Sonntag, 24. Mai 2009

Auf einen Kaffee in Vaduz

Meine Frau und ich haben ein Projekt am Laufen: „Wer war schon in den meisten Ländern Europas oder gar der Welt?“ Leider ist sie mir in einer Sache nahezu uneinholbar voraus: Sie war, als ich sie noch nicht kannte, mal in der Hauptstadt der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken. Das kriege ich natürlich so schnell nicht mehr getoppt, ich war ja noch nicht mal in Russland [Update: Meine Frau war gar nicht in Moskau, sondern in Leningrad - also nicht nur ein Land, das heute anders heißt, sondern auch eine Stadt, die es heute so nicht mehr gibt]. Dafür war ich mal in Israel (wenn auch nur im Transit auf dem Flughafen), ich war schon in Rumänien und in Bulgarien, beides ist jetzt fast 40 Jahre her, war ein beliebtes Urlaubsziel für kinderreiche Familien, damals. Sie allerdings war schon mal in Schottland und in Irland – da habe ich eindeutig Defizite. Ich war zwar schon häufiger in England als sie, aber Doubletten zählen nicht.

Punkte machen kann man natürlich mit kleinen Ländern und Kleinstaaten, aber da haben wir gemeinsam schon alles Mögliche durch: Malta, Türkische Republik Nordzypern, Andorra, San Marino, Vatikanstaat. In Luxemburg war ich schon mal, sie aber wohl auch. Und Liechtenstein?

Gar nicht so weit weg von München, sagt der Routenplaner, 240 km, wenn man auf Autobahnen verzichtet. An Himmelfahrt hatte ich einen gemeinsamen Ausflug mit dem Auto nach Vaduz vorgeschlagen, sie hatte abgelehnt. Okay, sie hatte ihre Chance, am heutigen Samstag kommt meine: Als wir in aller Frühe (denn sie muss derzeit wegen eines Studiums am Samstag immer früh raus) beim Frühstück sitzen, sage ich: „Ich fahre heute mit dem Motorrad nach Vaduz.“ Ihr Blick ist skeptisch. „Das ist ja viel zu weit. Du spinnst.“ Okay, für jemanden, der noch nicht einmal an einer Fahrt auf dem Motorrad in den nächsten Biergarten Interesse zeigt, muss es eine absurde Vorstellung sein, ein paar hundert Kilometer am Stück im Sattel zu verbringen, aber ich diskutiere ja auch nicht mit ihr über Handtaschen. Sie gibt mir noch zwei wichtige Anweisungen auf den Weg: 1. auf mich aufpassen. 2. heute noch zurückkommen. Ich deute Anweisung 2 als einen gewissen Freibrief, was den Zeitpunkt der Rückkehr angeht. Andererseits weiß ich, dass sie es gerne mag, wenn ich abends dann auch mal irgendwann wieder da bin.

Also los. Leider habe ich weder mein Notebook zur Hand (das braucht meine Frau im Moment fürs Studium) noch genügend Zeit, mir mit dem Motorrad-Tourenplaner eine detaillierte Route nach Vaduz unter spezieller Berücksichtigung von Mondphase, fahrdynamischen sowie touristischen Highlights zu stricken und auf mein Navi zu spielen. Deshalb plane ich auf Lücke: Auf der Hinfahrt will ich die Wahl der Route dem Navi allein überlassen, außerdem packe ich ein paar Landkarten ins Gepäck, um dann während der Pause in Vaduz in Ruhe eine spektakuläre Rückreiseroute zu planen. Recht warm ist es: Einen Fleecepulli packe ich zwar ein, brauche ihn aber die ganze Tour nicht, unter der Motorradjacke trage ich nur ein langärmeliges Unterhemd aus Funktions-Kunstfaser.

Das Navi erhält den Auftrag, eine Route von „München-Laim“ nach „Vaduz, Stadtmitte“ zu rechnen. Dabei wähle ich die Option „Autobahnen vermeiden“, die sich schon häufig als Garant für ebenso zügiges wie spektakuläres Vorwärtskommen bewährt hat – Mautstraßen lasse ich aus. Das Navi rechnet eine Weile und präsentiert eine Route von 257 km Länge und 4:25 Stunden Fahrtzeit. Um acht sitze ich auf der Maschine, um kurz vor halb eins soll ich in Vaduz sein, na, mal sehen.

Der erste Teil der Route birgt keine großen Überraschungen, das Navi leitet mich, es hat ja Autobahnverbot, auf der Olympiastraße parallel zur A95 bis nach Berg, von da aus über die B2 durch Starnberg durch in Richtung Weilheim. Naja, toll ist die Strecke nicht, aber man kommt voran. Dann geht es in Richtung Peißenberg. Ich vermute, dass das Navi die Alpenstraße in Richtung Füssen erwischen will, die üblicherweise mit Reisebussen voller Japaner verseucht ist. Nun gut, wenn man schnell nach Füssen oder nach Reutte in Tirol will, dann ist die Straße ganz okay, aber wenn man schnell wohin will, kann man ja auch den ICE nehmen. Doch dann kommt es anders: Kurz vor Peißenberg ist die neue Umgehungsstraße jetzt fertig, die B472 macht jetzt einen Bogen um die Stadt, durchschneidet mit einem Tunnel eine Hügelkette und überquert auf einer nagelneuen Brücke die Ammer. Die ganze Umgehung ist so neu, dass sie auf den Luftbildern von Google Earth noch nicht zu sehen ist – und mein Navi hat von ihr erst recht keinen Schimmer. Also rechnet sich der Rechner einen Wolf, während ich ein paar Hochgeschwindigkeits-Schräglagen fahre. Dann kreuzen wir die Böbinger Straße (ST 2058), die über Böbing und Rottenbuch führt, eine schöne Landstraße mit anspruchsvollen Kurven, ein paar Serpentinen und anderen Scherzen – diese Gelegenheit kann ich nicht auslasen. Die Route ist auch anderen Motorradfahrern bekannt, ich bin heute nicht allein. Das Navi fordert mich noch zweimal zum Umdrehen auf, bis es sich eines besseren besinnt und die gewählte Route akzeptiert.

In Rottenbuch kreuzt die ST 2058 die B23, auf der ich jetzt auf schnellstem und touristisch unattraktivstem Weg nach Oberammergau und weiter nach Österreich fahren könnte, doch das Navi hat andere Pläne. Es schickt mich auf die sehr schön zu fahrende ST 2059 über Steingaden nach Lechbruck, von dort aus geht es weiter nach Westen, die nächste größere Stadt ist Nesselwang. Die Landschaft verändert sich, wir sind jetzt eindeutig im Allgäu. In Sonthofen gerate ich in einen Einkaufsverkehrsstau, es ist jetzt schon richtig warm und mein Frühaufsteherbonus ist definitiv verbraucht.

Bei Balderschwang fahre ich über die Grenze nach Österreich, und hier sieht man ihn noch, den Unterschied im Lebensstandard, den es früher auch anderswo zu beobachten gab: Alles wirkt ein wenig ärmlicher und gerümpeliger als im properen, erkennbar wohlhabenden Allgäu. Dafür schickt mich das Navi im Vorarlberg durch immer kleinere, kurvigere Sträßchen. Ich vermute bereits einen Fehler im System, als ich plötzlich doch an einer größeren Durchgangsstraße lande, die in Richtung Dornbirn führt.
Dornbirn ist von den Städten der Bodenseeregion definitiv eine der hässlicheren. Die ganze Stadt wirkt merkwürdig heruntergekommen und zersiedelt. Dennoch plagen mich Hunger, Durst und ein einschlafendes Hinterteil. Deshalb mache ich Rast beim „Gasthof zum Bären“, ordere eine Flasche Almdudler und ein Paar Hauswürste mit Senf und Kren (Mehrrettich). Mit Letzterem ist nicht zu spaßen: Wer zuviel davon im Mund hat, heult. Beim Aldi, der in Österreich Hofer heißt und in Dornbirn in einem furchtbar hässlichen Gewerbegebiet untergebracht ist, scheitere ich bei dem Versuch, eine österreichische Prepaid-Karte für mein Smartphone zu kaufen – die gibt es nur für Menschen, die eine österreichische Adresse und eine österreichische Bankverbindung haben, steht in der Broschüre [Update: Stimmt nicht, es gibt auch eine Variante ohne Pass & Konto]. Also weiter.

Die Route nach Vaduz entwickelt jetzt gewisse Längen, ewig geht es durch langweilige, dafür strikt geschwindigkeitsbeschränkte Gewerbegebiete, bei denen zwar wirtschaftliche Prosperität erkennbar ist, aber kein konsequenter Bebauungsplan. Dass es immer noch nach Vaduz geht, muss ich meinem Navi glauben, denn ausgeschildert sehe ich die Hauptstadt des kleinen Nachbarlandes nirgends. Kurz vor Feldkirch erscheinen dann die ersten Hinweise: Das Fürstentum, das unser Finanzminister so auf dem Kieker hat, rückt näher.

In Schaanwald fahre ich völlig unspektakulär über die Grenze. Liechtenstein ist zwar nicht in der EU, aber dennoch will niemand meine Papiere sehen. Unspektakulär geht es weiter: Liechtenstein präsentiert sich wie ein ewig langes Straßendorf. Wer erwartet hatte, dass hier der Reichtum aus allen Poren spritzt, sieht sich getäuscht. Dabei hat Liechtenstein laut Wikipedia weltweit das höchste Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, 2005 waren es umgerechnet 111.000 Euro, gezahlt wird hier in Schweizer Franken, aber Euros gehen auch. In Schaan wird deutlich, dass im Fürstentum nicht nur Kapitalanlagen produziert werden: Schaan ist Heimat der Hilti-Werkzeuge, die großen Gebäude mit dem Hilti-Schriftzug dominieren die Stadt. An jeder Ecke ne Bank? Sieht nicht so aus.


Der Eindruck hält sich, als ich nach Vaduz komme. Die Stadt ist unspektakulär. Die Fußgängerzone im Zentrum kann es locker mit Metropolen wie Germering oder Verden an der Aller aufnehmen. Allerdings ist in Vaduz Centro die Dichte an Anbietern von Kuckucksuhren, Victorinox-Taschenmessern und Schweizer Schoggi signifikant höher als etwa in Verden. Viel Zeit habe ich nicht, denn ich muss ja irgendwann auch wieder nach hause, dennoch wage ich einen Rundgang durch die Fußgängerzone.

Zuvor muss ich mich allerdings minimal stadtfein machen, also falte ich meine Motorradjacke in den Koffer an der Yamaha, hänge Helm und Rückenpanzer ans Krad und sortiere mich neu. Das erregt das Interesse zweier fernöstlicher Touristen, sie beginnen Smalltalk mit mir. Wie schwer denn meine Maschine sei (etwa viermal so schwer wie Sie, junge Frau), woher ich denn komme und so weiter. Die Damen kommen aus China, wie sich herausstellt, und sie sind nicht die einzigen Chinesen in Vaduz. Landsleute von ihnen inspizieren interessiert und belustigt die zahlreichen modernen Kunstwerke, die in der Fußgängerzone verteilt sind.

Später lasse ich mich in einem der zahlreichen Straßencafés nieder, plane meine Rückreise und bestelle bei einem förmlich aussehenden jungen Mann einen Eiskaffee. Der wird mir gebracht von einer überaus attraktiven Blondine – und macht schlagartig klar, woher das hohe Bruttoinlandsprodukt kommt: Er kostet 8,90 Euro. Egal, dafür ist der Sprit billig, 1,01 Euro für den Liter Super ist mehr als 30 Cent billiger als in München. Auf dem Rückweg bunkere ich so viel, wie in den Tank passt, doch zuerst fahre ich noch zur Fürstenburg hoch.


Fürst Hans-Adam II ist der momentane Hausherr, die Straße hoch zur Burg wurde nach seinem Vater Franz-Josef benannt, der das Gemäuer seit 1938 bewohnt hat. Die Schokoladenseite ist zum Tal hin, was man von der Straße aus sieht, ist trutzig, aber nicht mehr. Hans-Adam II ist nicht ganz unumstritten: 1992 drohte er mit der Auflösung der Regierung, wenn sie nicht seinem Wunsch nach einem Termin für die Volksabstimmung über den Beitritt Liechtensteins zum EWR entspreche. Die Regierung kuschte, Liechtenstein trat dem EWR bei, und in Folge konnten sich zahllose ausländische Banken in Vaduz ansiedeln, allein: Man sieht sie nicht. Jetzt hat Fürst Hans-Adam Zwo Stress mit Bundesfinanzminister Peer Steinbrück Eins, der ihm seinen Steueroasen-Status nicht gönnt. Aber den kann er nicht einfach absetzen.

Kaffee getrunken, Burg gesehen, Sprit gebunkert – es geht zurück. Aber auf einer anderen Route, im Café kunstvoll händisch ins Navi programmiert. Raus aus dem Fürstentum geht es genauso wie rein – wieder will niemand an der Grenze irgendwelche Papiere sehen. Hätte ich das gewusst, hätte ich wirklich elegant mein nicht vorhandenes Schwarzgeld deponieren können. Wer kontrolliert schon die Koffer einer ’92er Yamaha. Die neue Route biegt hinter Feldkirch nach Osten ab, es geht in Richtung Furkajoch. Am Fuß des Passes die Enttäuschung: Der Pass sei gesperrt, sagt ein Schild, die Fahrt bis Lantens sei möglich. Was nun? Unschlüssig stehe ich mit drei anderen Motorradfahrern herum, da kommt der Besitzer eines Steh-Imbisses zu uns und klärt auf: „Der Pass ist zwar gesperrt, aber man kann problemlos rüberfahren, das machen die Einheimischen auch. Es gab oben wohl einen Erdrutsch, aber da kommt man problemlos durch.“ Der Mann muss es wissen, also los.

Oben erwartet uns eine gesperrte Brücke, die man auf einer Schneise durch den Wald umfahren kann. Reisebusse dürften hier Schwierigkeiten haben, aber wir kommen problemlos durch. Der Rest des Passes ist so gut wie verkehrsfrei, wenn man von ein paar Motorrädern und einigen Rennradlern absieht. Und außer einigem Schmelzwasser, das aus dem Restschnee auf die Straße läuft, gibt es auch keine ernst zu nehmende Behinderung auf der Straße. Erdrutsch? Fehlanzeige - oder schon abgeräumt.

Zehn Kilometer später ist dann endgültig Schluss, die Straße ist komplett gesperrt, ein Wachtposten steht daneben – und gibt Entwarnung: Wegen eines Bergrennens wurde die Straße gesperrt, in einer halben Stunde ist sie wieder offen.
Wir Motorradfahrer vertreiben uns die Zeit mit Smalltalk („Das ist aber auch ’ne schöne Maschine, die Du da hast“) und gucken den Renn-Oldtimern zu, die in 100 Metern Entfernung wenden, um wieder gen Tal zu fahren. Gegen 16 Uhr geht es weiter – schon ganz schön spät für jemanden, der noch 180 km bis nach hause hat.



Über Damüls und Schröcken geht es auf eine Passstraße, die in der Karte als „Käsestraße“ eingezeichnet ist und wunderbare Bergpanoramen mit schnellen Kurven paart. Schließlich komme ich auf die Lechtal-Bundesstraße, die mich direkt bis nach Reutte führt. In Stanzach wollte ich eigentlich abbiegen und eine Runde durchs Namloser Tal fahren, doch die fortgeschrittene Uhrzeit lässt mich die Economy-Variante wählen: Direkt nach Reutte, von dort aus über die B17 bis nach Steingaden und dann zurück in Richtung Böbing. Jetzt könnte ich genauso heimfahren, wie ich hergekommen bin, doch das Navi, das jetzt im „Schnellste Route“-Modus steht, nimmt seinen Job jedoch sehr ernst und leitet mich um in Richtung Uffing am Staffelsee und schickt mich schließlich bei Sindelsdorf auf die A95. Von dort aus sind es noch gut 50 Kilometer nach München. Kaum auf der Autobahn, geht mir der Sprit aus, ich schalte auf Reserve. Komme ich damit heim? Ich beschließe, kein Risiko einzugehen und tanke auf der Autobahntankstelle Höhenrain – für stolze 1,349 Euro pro Liter.

Kurz vor 19 Uhr komme ich zuhause an. Rund 600 Kilometer bin ich gefahren – nicht schlecht für einen kleinen Ausflug ins Eiscafé.

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